Eine EINSICHT fürs 70te Lebensjahr

Hin und wieder ist es an der Zeit, sich wieder einmal einen Überblick über die Baustelle „Ich“ zu verschaffen. Und da es hierzu einer mehr als üblichen Klarheit bedarf, begann ich zunächst einmal mit einer Beschreibung des Alltags, wie er sich mir auf dem Termin- und Arbeitskalender anbietet und der Gefühlslage, mit der diese Vorgabe sich ausschmückt. Wenn ich meine Alltagswelt mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich das Wort „vollzogene Konzepte“ verwenden müssen, Konzepte, die sich zu einem Automatismus verdichtet haben. Es stellt sich die Frage: Wäre es nicht nutzbringend und vielleicht auch etwas aufregender, sich aus diesen Konzepten zu befreien und einfach zu beginnen, anders zu leben? Nun sagt mir der Verstand, das das andere Leben sich über kurz oder lang ebenfalls zu Konzepten verdichten muss. Und dann geht es, anders ausgeschmückt zwar, wie zuvor auch schon von Neuem los. Nur in der Zwischenphase, wo das Alte wegbricht und das Neue beginnt, würde sich eine kurze, weniger Konzept-belegte Zeit anbieten. Wie lange würde das dauern: Ein Jahr vielleicht, oder zwei…? Und die Fragen stellen sich: Was ginge verloren? Was würde gewonnen? Wie groß wären die Opfer? Wie groß wäre der wie immer geartete Nutzen? Das aber sind Fragen, die sich zielführend nicht werden beantworten lassen.

Eine andere gedankliche Konstruktion drängt sich mir daher auf, um die dunkle Tiefe der vor mir liegenden Analyse zu durchdringen. Sie würde sich mehr mit einer Prozessentwicklung als mit Kausalitätsbetrachtungen beschäftigen müssen. Dieser Prozess läuft genau genommen schon nahezu 70 Jahre und er wird wie auch immer gefüllt weiterlaufen bis zur letzten Reise, die wohl jeder Mensch antreten muss und deren Ziel im Ungewissen liegt. Darüber Betrachtungen anzufertigen, wie das die Religionen seit ihrem Bestehen tun, finde ich müßig. Es ist und bleibt ungewiss, was folgt, und ich stehe seit langem schon zu der These, das alle Problemstellungen, die nicht lösbar sind, in einer konzeptfreien Offenheit verbleiben sollten. Der Tod gehört letztlich ebenso dazu wie auch die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ hier und heute. Ich komme daher zurück zum Leben und lasse das, was nicht gelöst werden kann, als „nicht lösbar“ stehen.

Was braucht der Mensch in Zeiten der Zivilisation zum Leben? In der Regel fallen da neben Essen, Trinken und dem schützenden Dach über dem Kopf noch unzählige andere Dinge ein. Ich spreche hier von dem Standard, der innerhalb einer Gesellschaft zu einer der Voraussetzungen gehört, um gesellschaftlich anerkannt zu sein. Ist aber Anerkennung durch das Umfeld seines Lebensbereichs ein Grundstock, auf den nicht verzichtet werden kann? Es gibt Arme, Alte und Kranke, die dieser Anerkennung nicht oder zumindest nur begrenzt teilhaftig werden, es gibt Insassen in Gefängnissen und Anstalten, denen es ebenso geht. Es gibt weiterhin Menschen beiderlei Geschlechts, die freiwillig auf diese Teilhabe verzichten und sich in Klöster und in eine Einsamkeit zurückziehen. Sie alle entbehren der Anerkennung durch einen zu erreichenden Standard der Gesellschaft. Und sie leben auch und vermitteln oft sogar dem Besucher einen relativ glücklichen Eindruck. Ist also gesellschaftliche Anerkennung wirklich ein Grundstock, auf den nicht verzichtet werden kann? Was ist sonst noch unentbehrlich für ein geglücktes Leben? Die Themen Familie, Beziehung, Karriere und Reichtum machen allein, wie allgemein bekannt, für sich genommen selten glücklich, auch wenn das niemand so richtig zuzugeben bereit ist. Viele Familien erweisen sich als kleine Katastrophen, Karrieren sind oftmals enorm anstrengend und beanspruchen so viel Zeit, das viele andere Lebensmöglichkeiten auf der Strecke bleiben, und wie viele reiche Menschen sind wirklich glücklich? Auch sind Prominent-sein, also mit einem hohen Bekanntheitsgrad durch die Medien zu leben, wie täglich im Fernsehen zu ersehen, nicht wirklich eine Grundlage für ein geglücktes Leben. Die Programme im privaten Fernsehen sprechen da Bände. Was aber fällt dem Nachdenkenden noch ein, was ein Leben heute unbedingt erreicht haben muss, um als gelebt zu gelten?

Was mich hin und wieder einholt, ist dieses bereits angesprochene Thema der Langeweile. Ist Langeweile wirklich so ein Elend, wie es in den Geschichten des Lebens 1 oft dargestellt wird. Der Gelangweilte hat doch wohl, so er bei wachem Verstand sich erweist, alles erledigt, was der zivilisierte Alltag zu bieten hat. Er erreicht das, was sich der moderne Arbeitnehmer doch regelmäßig wünscht: Endlich mal in den Anforderungen fertig 2 zu sein. Da ist dann höchstens noch die meist kurz gehaltene Löffelliste, die es zu Lebzeiten noch abzuarbeiten gibt. Und was steht da wohl drauf, was als unverzichtbar für ein gelungenes Leben gelten könne? Ist ein gelungenes Leben nicht eher ein Leben, wo ausreichendes Essen und Trinken, ein Dach über dem Kopf und keine Probleme mit Krieg, Pandemien, Wirtschafts- und Naturkatastrophen auftreten? Ein einfaches gesichertes Leben also? Dazu bedarf es doch gerade keiner Stellung, keines besonderen Ansehens oder sogar der Prominenz. Ich habe vor langer Zeit meinen Wehrdienst als Wehrpflichtiger abgeleistet und habe noch sehr gut in Erinnerung, was mir ein Altgedienter riet, als er erfuhr, dass ich einrücken muss: „Falle nicht auf, weder positiv noch negativ, halte dich stets im Halbdunkel auf und strebe nicht nach dem Licht der Bekanntheit. So kommst du gut über die Runden.“ Er hatte recht, und ich ärgere mich noch heute, das ich mich nicht allzu genau an seinen Rat habe halten können. Ist es vielleicht in einem gelungenen Leben nicht ähnlich? Sorge für einen gefüllten Bauch, das Dach über dem Kopf und dafür, am Monatsende noch einen Euro auf dem Konto zu haben, halte dich heraus aus den vielfältig angebotenen Profilierungen und gehe mehr unauffällig durch deine Zeit. Sorge weiterhin früh genug für einen ausreichend ausgestatteten Lebensabend und riskiere nur so viel, wie du im Falle des Misserfolgs entbehren kannst. Alles andere ist nicht wirklich wichtig, sondern nur „nett“ 3, hat aber wie alles Überflüssige Licht- und Schattenseiten. Gibt es etwas Schöneres als auf seinem Sofa im geheizten Heim zu sitzen, und es gibt Nichts und Niemand, der dich bedrängt oder fordert? Alles ist erledigt, alle sind versorgt, alle sind zufrieden, nichts steht an. Was um alles in der Welt ist schlecht daran?

  1. Die zugehörigen Narrative werden in Romanen und Fernsehfilmen herumgereicht.
  2. In der Form, etwas für eine gewisse Zeit abgeschlossen zu haben.
  3. Neudeutsch wäre das: Nice to have
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