Ruhestand und Erinnerung

Da ich selbst mich im Rentenalter befinde, in der Gesellschaft meist recht unauffällig agiere und, zumindest glaube ich das von mir so zu wissen, keine Störungsmerkmale abstrahle, hilft mir das leider nicht bei meinen jetzigen Problemfeld, das sich mit der schlichten einfachen Tatsache beschäftigt, das ich jetzt nicht mehr arbeiten muss, ich ein leistungsfreies Einkommen beziehe (Rente), mit 68 Jahren meine statistische Lebenserwartung noch 10 Jahre beträgt und mir daher so einiges an Identifikationsobjekten wegbricht, an die ich gewöhnt war und über das meine Mitmenschen überwiegend und gerne zu reden pflegen.

Sie planen dabei ihre die Zukunft in der Arbeitswelt, planen für den nächsten Urlaub (Reise oder doch nur Erholung?), es geht um die Pläne für das Eigenheim, die Probleme der Kindererziehung usw. All das aber sind keine Themen mehr für mich. All das erweckt zwar mein Interesse über die Fähigkeit zu Mitgefühl, aber es tangiert mein Leben persönlich nicht mehr so sehr. Was mich zurzeit interessiert ist vielmehr die Frage, wie ich mit der Unmenge an freier Zeit, der sehr gering ausgeprägten Fremdbestimmung (Es gibt da zurzeit nur meine Beziehungspartnerin und die Termine für Unterrichtsstunden in Yoga und Breitensport…) und den zwangsläufig sich häufen werdenden Alterserscheinung umgehen kann.

Wenn ich aus der Erfahrung heraus mir anschaue, was mir bekannte Menschen über ihre Eltern und deren Tagewerk erzählen, wenn diese in Rente gegangen sind, dann komme ich mir vor, als wäre ich gerade in einer Klischee-Küche angekommen: Von Gartenarbeit und der Pflege des Eigenheims über die Betreuung der Enkel bis hin zu Ausflügen ins Shopping-Center, vom Sportstudio über das Volksbildungsheim bis zum Radfahren, von der Digitalisierung der Dias und der Schallplatten bis zum Arbeitseinsatz beim Nestbau der Kinder ist alles in reicher Form enthalten, was als Klischee etabliert ist. Nur sind das eben keine sinnerfüllenden Beschäftigungen für mich, sondern das betrachte ich doch eher als die kleinen Alltagsdienste für mich und andere, die in einer gut strukturierten Gesellschaft eher selbstverständlich sind und nicht erst im Rentenalter angefangen werden sollten, sondern die zum gewöhnlichen Alltag auch der 40-Jährigen schon gehören müssten. Wenn ich eine tolle Schallplatte oder schöne Bilder habe, warte ich doch nicht auf meine Rentenzeit, bevor ich diese digitalisiere, nein, ich möchte sie doch schon viel früher hören und schauen können. Ein schöner Garten ist zu allen Zeiten eine tolle Sache und für Enkel und Kinder ist man eben da, wenn es angesagt ist. Nur, diese Tätigkeiten sollten nicht allein der Sinngehalt eines Ruhestandes sein, sollten nicht zum neuen Beruf werden: Statt Angestellter bin ich dann Maler und Schreiner im Dienste der Kinder, bin ich Kindergärtner, Taxifahrer und Unterrichtshilfe für Enkel, werde ich statt Bewohner eines Hauses oder einer Wohnung zu Hausmeister und Hausmädchen. Und wenn dann noch eine materielle Unterstützung der Kinder dazukommt, man sich dafür einschränken und verzichten muss, stimmt etwas mit dem Status „Ruhestand“ nicht mehr. Trotzdem scheint diese Form sehr weit verbreitet zu sein und wird nur ergänzt durch die älteren Menschen, die nichts mehr mit sich und anderen anzufangen wissen und zwischen Einkaufen, Fernseher und Sofa hin und her pendeln. Natürlich gibt es auch positive Beispiele, gibt es Menschen, die ihren Ruhestand genießen und ausreichend Sinn finden in Reisen, der Kunst und anderen Beschäftigungen. Aber meist sind diese gut situiert, sind gesund alt geworden und haben schon neben der aktiven Arbeitswelt sich mit den anderen Weisen des Tätigseins beschäftigt.

Betrachten wir jetzt einmal das Narrativ, das sich unsere Gesellschaft für den Ruhestand gegeben hat. Das zur Zeit gültige Narrativ für die wirtschaftliche Ausstattung des Lebens heißt doch: Wer fleißig ist und arbeitet, kann sich eine Rente erwirtschaften, sich etwas zurücklegen und vorsorgen für die Zeit des Ruhestandes. Dieser wird gesund erreicht und ermöglicht einen entspannten und wohlversorgten dritten Lebensabschnitt. Realität heute aber ist, das immer weniger Rentner heute schon von ihrer Rente werden leben können und das Rentner Kinder haben werden, die Unterstützung brauchen in Form von zeitaufwändigere Dienstleistungen und finanziellen Zuwendungen. Und weiterhin ist zu beobachten, das sowohl die Qualität der ärztliche Versorgung (besonders auf dem Land) als auch die Möglichkeiten, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, ständig weiter sinkt. Die Leistungen der Pflegeindustrie ist mehr als dürftig, die noch vorhandenen Einkaufmöglichkeiten in Wohnungsnähe sind bescheiden, und die Wohnungsnot im preiswerten Segment ist riesig. Das alles spricht gegen die Funktionalität, Gültigkeit des bestehenden Narratives, wie es oben skizziert wurde.

Ich bin nun seit mehr als fünf Jahren im Ruhestand, und ich muss sagen, das die neue Lebensphase mir sehr angenehm erscheint. Und ja, auch ich habe einige der oben erwähnten liegen gebliebenen Aufgaben erledigt, und so viel wie es anfangs erschien war es in Wirklichkeit ja gar nicht. Was ich allerdings bemerkt habe und was mir erwähnenswert erscheint, ist eine andere Entdeckung. Ich kann heute wieder mir wichtig erscheinende Aufgaben frei und unbelastet priorisieren, denn ich werde in meinen Arbeitsabläufen nicht von den willkürlich gesetzten Terminen anderer unterbrochen. Natürlich habe auch ich heute noch Termine, aber die sind meist fest und schon weit im voraus gesetzt, nur wenige davon sind vereinzelt oder einmalig, und nur ganz selten kommt so einer plötzlich aus dem Nichts. Ansonsten aber klingelt lang kein Telefon, es gibt keine Meetings oder andere kurzfristig nicht eingeplanten Unterbrechungen. Für diesen Text, den ich gerade hier schreibe, habe ich kein Enddatum. Ich weiß also nicht, wann ich nach dem Schließen der Datei diese wieder öffnen werde. Es ist schlicht und einfach auch gar nicht wichtig, damit fertig zu werden. Für lästige und wenig erquickende Arbeiten nehme ich mir jeden Tag einen kleinen Zeitraum. 10 Minuten lang etwas ordnen, sortieren und/oder kurz überfliegen ist keine Last, sondern eine willkommene Abwechslung zwischen Lesen, Schreiben oder anderen Tätigkeiten. Es braucht nur eine gewisse Ordnung, die daran erinnert, das da noch etwas liegt, und die ist heute mit EDV und Smartphone leicht aufzubauen. Es gibt Hilfsmittel in großer Zahl, von Erinnerungsfunktionen, Timer, Wecker, Terminplaner, Aufgabenplaner bis zu elektronischen Ablageformen ist alles massenweise vorhanden. Man muss diese nur zweckdienlich nutzen, und natürlich auch ein wenig verstehen. Was ich daher auf jeden Fall für wichtig erachte und was mein tägliches Ruhestandsleben (Das ist der Teil meiner Beschäftigungen, die nicht alltagsgebunden und langfristig terminiert sind…) mittelbar immer begleitet, ist der Zwang, ständig dazuzulernen. Die vielen neuen Helfershelfer, vom Smartphone über den Laptop bis zur Banking App und Internetaktivitäten, alles scheint ständig im Wandel begriffen zu sein und nichts kann endgültig als beherrschbar betrachtet werden, ohne dazulernen zu müssen. Beschäftigte ich mich wochenlang mit den Anforderungen, die zum Beispiel der Umstieg von Win7 auf Win10 mit sich brachte, steht jetzt schon der Umstieg auf Win11 bevor mit neuen Herausforderungen. Updates, Sicherungsmaßnahmen, Aufrüstung, Ausrüstung, nicht bleibt über einen längeren Zeitraum konstant verwendbar. Und was der Rechner erfordert, erfordern auch das Smartphone, das Smarthome und die ständig erweiterten Internet-Funktionen, und das geht von Banken, Orts-Behörden, Shops, Service-Portale, Finanzamt, Informationsbeschaffung bis zu Unterhaltung und zum „Wie geht das…“. Und das betrifft ja nur den Verwaltungssektor des täglichen Lebens. Dazu kommen Einkauf, Küche, Arztbesuche und so weiter und so weiter. Ich glaube, ich konnte verständlich machen, das immerzu lernen können/müssen eine Grundfunktion des Lebens heute darstellt. Schön ist: Ich habe mehr Zeit dafür. Offensichtlich ist, das ich älter werde und diese Mehr-Zeit auch brauche.

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