Wohin kann/wird mein Weg mich
führen?
Der Ruhestand baut auf einer Einbettung in die
kulturellen Sicherheiten auf, in der wir unser bisheriges Leben
gestaltet haben. Da sind die Sozialkontakte, die mich einerseits
unterhalten und die andererseits für die vielen kleinen
Hilfestellungen notwendig sind, die für mich als älterer Mensch
notwendig werden. Dann ist die materielle Sicherheit zu erwähnen,
die mir ein unbeschwertes Leben ohne Not ermöglicht. Sind beide
vorhanden, kann die Zeit mit sinnvollen, darunter durchaus auch
nutzlosen Tätigkeiten und Ideen gefüllt werden. Dazu helfen die
konventionellen Rahmenbeschreibungen nicht mehr weiter, es sei denn,
man ignoriert den Beginn des neuen Lebensabschnitts und macht einfach
weiter wie bisher. Haus und Garten pflegen, die Enkel versorgen und
fernsehen ab dem frühen Abend würde ich in diesem Rahmen erwähnen
wollen. Hat man sich aber mal mit grundlegenden Fragen beschäftigt,
wird das einfach nicht ausreichen, um dem weiteren Leben Sinn und
Fülle zu verleihen. Dann sind zumindest für mich die Fragen nämlich
neu zu stellen, neu zu untersuchen, auf was denn das Leben beruht.
Denn erst jetzt, in fortgeschrittenem Alter, wird für diese
Sisyphus-Aufgabe genügend Zeit zu Verfügung stehen. Seit
Menschengedenken sind es die Alten, die, von der Plage des Alltags
entlastet, als Ratgeber der jüngeren Generationen fungierten. Ohne
Aufgabe und offenen Auges durch die Welt schlendernd, sehend, wozu
anderen die Zeit fehlt, fragend dort, wo andere durch
Aufgabenerfüllung zu tief im Alltäglichen verstrickt sind, gelingt
ihnen diese segensreiche Arbeit ohne Mühe, denn Zeit und Freiheit
sind die grundlegenden Motive für das Gelingen von Weisheit, wie
diese Gabe seit alters her genannt wird. Das Menschen weise sein und
werden können scheint aus unserer Kultur fast vollkommen
verschwunden zu sein. Das ist in meinen Augen ein großer Verlust,
denn das Spezialistentum, das wir an seine Stelle gesetzt haben, mag
zwar über reichlich Wissen und Systematik zu verfügen, aber
Erfahrung haben diese gehetzten Menschen oft nicht, auch verfügen
sie nicht über nutzlos verbrachte Zeit und schon gar nicht über die
Freiheit, auch ungesetzte Gedanken verfolgen zu können.
So
die Fragestellung verfolgend, komme ich jetzt wieder zu den Kriterien
zurück, die zu dem Gedankengebäude geführt haben. Denn die
Rahmenbedingungen, die möglich sind und die zu weiteren Aktivitäten
und Öffnungen führen können, heißen Freiheit, Zeit haben und
unbeschwert in den Tag hineingehen zu können sowie unbeschwert und
ohne Ziel sein Denken vertiefen zu können. Das Ziel, kurz genannt,
sei Weisheit. Das ist für mich die Aufgabe eines erfüllten
Ruhestandes, die Tätigkeit im alt und frei sein. Um Weisheit zu
entwickeln muss der Fokus auf das Leben, auf den neuen Tag, auf den
Restbestand an Tagen sich ändern dürfen. Hierzu ist nicht „immer
weiter so“ gefragt, sondern gefragt sind vielmehr anhalten,
schauen, wirken lassen, offen bleiben und alles und jedes
hinterfragen zu dürfen.
Ich für mich werde dieses Ziel verfolgen, wenn mein letzter Arbeitstag vergangen ist. Ich für mich habe vor, weise zu werden. Und wenn es denn gelingen sollte, sehe ich weiter und dann schreibe ich auch darüber, wenn Finger und Augenlicht dies noch zulassen. Und ich bin genauso gespannt auf das Ergebnis wie der Leser dieser Zeilen. So stelle ich mir den Abschluss vor, den Lebensabend, und so werde ich ihn hoffentlich auch bestreiten!