Fragen, Freiheit und Lebensabend

Mich haben seit meiner Jugend viele Fragen beschäftigt, von denen einige zu den grundlegenden Fragen der Philosophie gehören.

Allerdings war meine Ausgestaltung dieser Fragen nicht auf einen theoretischen Ablauf ausgerichtet, sondern meist durchaus praktischer Natur. Trotzdem heißt „praktisch“ nicht immer auch oberflächlich, denn auch Praxis verlangt in letzter Konsequenz gedankliche Tiefe und Gründlichkeit. Über einige dieser Tiefen-Fragen möchte ich jetzt in diesen Zeilen für mich eine Frage beantworten, die seit einiger Zeit mein Denken beherrscht: Was mache ich mit und in meinem Ruhestand, der mit jedem vergangenen Tag immer näher heranrückt. Wo befinde ich mich dann, was wird sein und was wird mich dann noch erfüllen? Das ist die Fragestellung dieser Zeilen.



Wer bin ich?
Das ist im
normalen Umfeld und unter normalen Bedingungen eine unsinnige Frage.
Die Antwort lautet meist: Du bist der Hansi Peter oder einfach nur
ein einzelner Mensch, ein Mann oder bei antwortenden aufgeklärten
Menschen ein konkreter Mitmensch. Allerdings ist der Name, der Mensch
nur ein Wort. Bereits der anders sprachige Mitmensch wird dieses Wort
schon nicht verstehen. Hinter dem Wort steht eine Idee, eine
Kategorie [1. Gattung, Klasse, Gruppe], ein Teil der beschreibbaren
Welt oder ein Gegenstand, wobei das neue Wort wie das alte nur ein
weiteres Wort darstellt. Wir können dieses Spiel immer weiterführen
und werden selten bzw. nie ein Ende finden. Unser Denken benutzt
Wörter, die etwas bezeichnen, um andere Wörter, die etwas
bezeichnen, zu bezeichnen. Wenn wir also eine sogenannte Aussage
machen wie ich bin ein Mensch, und das ist ein Wesen, das denkt und
auf dieser Welt wandelt, benutzen wir Wörter, um ein Wort zu
beschreiben. Da wir so aber immer im Relativen bleiben, können wir
auch nur relative Aussagen machen. Relative Aussagen gelten aber nur
in einem bestimmten Rahmen, den wir dann ebenfalls zu setzten haben,
wobei wir auch hier immer in der Relation bleiben müssen.
Zurückkommend auf die Ausgangsfrage können wir daher in der
Relation viele Aussagen machen, im Absoluten aber keine.

Was bin ich?
Wenn ich
diese Frage beantworte und dabei etwas Mühe hineinlege, wir ein Satz
herauskommen, der mich als Mensch begreift, ein Wesen, das sich aus
der Masse der Wesen abhebt durch Eigenschaften und Fähigkeiten, die
in dieser Formation nur dieser Gattung aufzufinden ist. Meist wird
der Mensch in diesem Kontext beschrieben als bewusst, also als ein
Wesen, das denkt und sich dieser Fähigkeit auch bewusst ist. Eine
etwas kompliziertere, aber auch genauere Beschreibung würde lauten,
das der Mensch ein Wesen ist, das denkt, sich dessen bewusst ist und
sich dieses Bewusstseins auch vergegenwärtigen kann, wobei das
„kann“ ein wirkliches kann ist, Menschen können das, müssen es
aber nicht und können es auch lassen, was, wenn man Mitmenschen
genau beobachtet, auch oftmals genauso zu geschehen scheint. Ich bin
also ein Mensch mit dieses Fähigkeiten und Anlagen. Und ich bin frei
sie zu nutzen oder auch nicht.



Warum bin ich hier?
Jetzt
und mit dieser Frage beginnt eine gewisse Spannung in die
Fragestellungen zu geraten, denn hier können, je nach Art, Tiefe
und Neigung der Betrachtung sehr unterschiedliche Ergebnisse
herauskommen. Hier sind der Phantasie keinerlei Grenzen gesetzt.
Grundlegend unterscheide ich hier zwei Kategorien, wobei ich der
Ersten eine Grundannahme anheimstelle und der Zweiten eine
Grundannahme grundsätzlich verwehre. Diese Grundannahme stellt die
Existenz einer Autorität oder Ursache nicht in Frage, die Absolut
genannt werden kann. In unserer Alltagssprache heißt das dann Gott,
Atman, das Universum, der Ursprung, das Schicksal, die Vorsehung oder
ähnlich. Hier wird ein Absolutes zugrunde gelegt, das außerhalb der
Relativität unseres Denkens steht und Macht oder etwas
Unabänderliches besitzt. Alle Religionen, nahezu alle Kulturen und
Organisationsformen der Menschen besitzen ein solch Absolutes oder
bestimmen einen oder etwas aus ihrer Mitte, um dieses Zentrum zu
schaffen. Die andere Kategorie verzichtet gänzlich auf die Existenz
oder Installation eines Absoluten und findet sich somit ab in der
Ungewissheit des Relativen, wobei auch hier Regeln und Kulturformen
entwickelt werden, die folgerichtig als bewusst-relativ verstanden
werden. Diese kategorische Form ist sehr schwierig zu beschreiben, da
das Kreisen in der Relation andere Formen der Autorität notwendig
macht. Als Beispiel der letzten Form seien der Advaita Vedanta und
der Buddhismus des Mahayana genannt. Unzählige Antworten gibt es
also auf die Ausgangsfrage und es gelingt nicht, diese Frage zu einem
Abschluss zu bringen. Sie bleibt offen und verlangt damit vom
Fragenden eine Entscheidung, die immer wieder neu bekräftigt werden
muss.

Habe ich hier auf der Welt eine
Aufgabe zu erfüllen?
Nahezu alle Kulturen, Religionen und
Ansichten in und über die Welt beantworten diese Frage mit ja, und
im gleichen Kontext würde eine Antwort nein stets als eine
krankhafte Geistesstörung angesehen. Was ist oder kann also Aufgabe
eines Lebens sein. Da wir auch hier in Relationen denken müssen sind
viele Antworten möglich. Die grundlegendsten davon beinhalten immer
die Fortsetzung, den Erhalt der Art, des Lebens und damit der uns
bekannten Welt. Es ist bezeichnend für diese Fragestellung, das eine
Antwort nein auch das Erlöschen der Frage bedeuten würde. Setze ich
die möglichen Rahmen der Betrachtung enger, könne eine Antwort
möglich sein, das Leben auf der Welt zu verbessern (Hunger, Armut,
Not abzuschaffen) oder über Öffnung und Weitung des Bewusstseins
neue Möglichkeiten zu erschließen.

Was ist wichtig?
Diese
Frage fragt nach einem Rahmen, in den ich künftige Entscheidungen
einbetten kann und mir eine Hilfe dabei gibt, die mir Sicherheit
vermittelt. Doch wie wir gesehen haben in der Argumentation oben,
gibt es keine richtige, keine einzige Antwort auf diese Frage
außerhalb der Relativität. Auch hier ist der Rahmen von mir selbst
zu setzen, und innerhalb dieser Konfiguration dann sind
Entscheidungen sicher möglich. Es gibt sehr weite Rahmen, sehr enge
Rahmen, beide mit der Möglichkeit großer Autoritäten oder auch,
wie in den bereits genannten Weltanschauungen, der Verzicht auf
Setzungen. Wichtig auf jeden Fall ist die Annahme, dass unser Leben
als Art erhaltenswert ist und weitergeführt sollte. Damit verbunden
ist auch die Sorge um die Erde, die zumindest heute die einzig
mögliche Lebenswelt darstellt. Wichtig wäre also zu leben, das
Leben und somit auch die Erfahrungen und Wissen darüber
weiterzugeben an künftige Generationen.



Wie wir bisher sehen konnten kreisen
die Fragen nach dem Grund und der Gestaltung eines Lebens immer um
die gleichen Punkte, und wie immer die Fragen auch umgestaltet
werden, die möglichen Antworten handeln von sich wiederholenden
Motiven:

  • Meine Antworten können immer
    nur relativ gestaltet sein, benötigen eine Rahmensetzung
  • Solche Rahmen werden
    Weltbild, Religion oder Kultur genannt. Sie regeln das Zusammenspiel
    einzelner Wesen.
  • Wichtig erscheint einzig die
    Weiterführung der lebendigen Welt, die zurzeit nur auf diesem
    Planeten bestehen kann.
  • Wir haben auf jeden Fall eine
    Aufgabe.

In den grundlegenden Fragen gibt es
nicht Gerechtigkeit, nicht definierte Besitzstände, nicht Macht,
nicht Status und nicht Notwendigkeit. Was wir leicht erkennen können
ist die übermächtige Wirksamkeit der fortgesetzten Relativität
aller Annahmen und die Notwendigkeit, sich für seine Person zu
entscheiden. Was wichtig wird, ist in welchem Rahmen ich leben
möchte: selbstbestimmt oder aus einer Nicht-Entscheidung heraus,
indem ich fraglos akzeptiere, was gerade so ist. Letzteres bedeutet,
in eine Kultur und Religion hineingeboren zu sein, dort ein durch
geregeltes Leben zu leben ohne Wenn und Aber, ohne Fragen und …
ohne Unsicherheit, denn genau diese Sicherheit ist ja der Kern jeder
kulturellen Anbindung. Seltsam für mich ist, dass die meisten
Menschen die letztgenannte Möglichkeit wählen. Wenn ich so in die
Runde meiner Gespräche schaue geht es überwiegend um Status (wie
denken andere über mich, und ich über andere), geht es um die
Bewältigung des Alltags in einer Kultureinbettung, die nicht
hinterfragt wird, geht es um Gerechtigkeit (andere haben etwas, was
mir vorenthalten wird…), geht es um Besitz (Haus, Familie, Boot,
Besitz) und nicht zuletzt um Macht (wer bestimmt, was jetzt und
morgen Alltag ist und wird). Wie aber sollen Antworten oder
Möglichkeiten von Antworten zu Fragen gefunden werden können, wenn
die Basis, der Hintergrund und das Fundament nicht ausgeleuchtet
wurden. Und daher möchte ich jetzt eine weitere grundlegende Frage
einfügen, die aufgrund der letzten Zeilen doch unabkömmlich zu sein
scheint: Sind die Rahmen und Rahmenentscheidungen, die ich einmal
getroffen habe, über ein ganzes Leben gültig, und muss ich nicht,
zumindest wenn ein neuer Abschnitt des Lebens bevorsteht
(Entscheidung für Familie, für ein anderes Umfeld, für einen
Ruhestand), diese nicht von Grund auf neu zu setzen? Und muss ich vor
allen anderen Fragen nicht dabei wieder mit der allerersten Frage [2.
Wer bin ich oder spekulativ: wer will ich sein?] beginnen.

Geht es mir und anderen weiterhin
gut mit meinen Entscheidungen?
Für die neue Frage, die hier
etwas knapper formuliert ist, benötige ich neue Kriterien der
Beurteilung, neue Hilfestellungen und Karten, die aus dem Dickicht
führen helfen. Anders ausgedrückt, müssen zu den Kriterien, die
ich bisher zugrunde gelegt habe, neue hinzukommen, um die alten
Rahmen und Entscheidungen überprüfen zu können und erweiternd, um
neue Inhalte überhaupt auffinden zu können? Was könnten das für
Kriterien sein?
Doch betrachten wir zunächst einmal ein paar
mögliche Lebensabschnitte, die andere oder spezielle
Rahmenentscheidungen benötigen. Als Kind sind wir, wenn es gut
läuft, von Eltern umsorgt, deren Augenmerk darauf gerichtet ist, uns
das nötige Werkzeug in die Hand zu geben, mit dem ein Leben
gestartet werden kann. Dann kommt die Zeit des Lernens, in der ich
die Fähigkeit entwickle, in der mich umgebenden Welt zurechtzukommen
und zu bestehen. Dann gründe ich eine Familie und erziehe und bilde
den Nachwuchs aus, der die Aufgabe der Sicherung der Art konsequent
verfolgt. Parallel dazu schaffe ich für mein Leben die Sicherheiten,
die ich brauche, um gestaltend weiterzugehen und alt werden zu
können. Und dann kommt der letzte Abschnitt, der Ruhestand. Wenn es
gut läuft, sollte spätestens dann alles getan sein und das Leben
sollte frei werden dürfen, denn die Aufgaben sind erfüllt, die
Notwendigkeiten sind erledigt und die Sicherheiten sind gegeben. Muss
der neue Lebensabschnitt, das sei zu bedenken, nicht aus diesem
Grunde schon auf neue Fundamente, neue Rahmen gesetzt werden? Und
welche Kriterien helfen bei der Neuausrichtung?



Wohin kann/wird mein Weg mich
führen?
Der Ruhestand baut auf einer Einbettung in die
kulturellen Sicherheiten auf, in der wir unser bisheriges Leben
gestaltet haben. Da sind die Sozialkontakte, die mich einerseits
unterhalten und die andererseits für die vielen kleinen
Hilfestellungen notwendig sind, die für mich als älterer Mensch
notwendig werden. Dann ist die materielle Sicherheit zu erwähnen,
die mir ein unbeschwertes Leben ohne Not ermöglicht. Sind beide
vorhanden, kann die Zeit mit sinnvollen, darunter durchaus auch
nutzlosen Tätigkeiten und Ideen gefüllt werden. Dazu helfen die
konventionellen Rahmenbeschreibungen nicht mehr weiter, es sei denn,
man ignoriert den Beginn des neuen Lebensabschnitts und macht einfach
weiter wie bisher. Haus und Garten pflegen, die Enkel versorgen und
fernsehen ab dem frühen Abend würde ich in diesem Rahmen erwähnen
wollen. Hat man sich aber mal mit grundlegenden Fragen beschäftigt,
wird das einfach nicht ausreichen, um dem weiteren Leben Sinn und
Fülle zu verleihen. Dann sind zumindest für mich die Fragen nämlich
neu zu stellen, neu zu untersuchen, auf was denn das Leben beruht.
Denn erst jetzt, in fortgeschrittenem Alter, wird für diese
Sisyphus-Aufgabe genügend Zeit zu Verfügung stehen. Seit
Menschengedenken sind es die Alten, die, von der Plage des Alltags
entlastet, als Ratgeber der jüngeren Generationen fungierten. Ohne
Aufgabe und offenen Auges durch die Welt schlendernd, sehend, wozu
anderen die Zeit fehlt, fragend dort, wo andere durch
Aufgabenerfüllung zu tief im Alltäglichen verstrickt sind, gelingt
ihnen diese segensreiche Arbeit ohne Mühe, denn Zeit und Freiheit
sind die grundlegenden Motive für das Gelingen von Weisheit, wie
diese Gabe seit alters her genannt wird. Das Menschen weise sein und
werden können scheint aus unserer Kultur fast vollkommen
verschwunden zu sein. Das ist in meinen Augen ein großer Verlust,
denn das Spezialistentum, das wir an seine Stelle gesetzt haben, mag
zwar über reichlich Wissen und Systematik zu verfügen, aber
Erfahrung haben diese gehetzten Menschen oft nicht, auch verfügen
sie nicht über nutzlos verbrachte Zeit und schon gar nicht über die
Freiheit, auch ungesetzte Gedanken verfolgen zu können.
So
die Fragestellung verfolgend, komme ich jetzt wieder zu den Kriterien
zurück, die zu dem Gedankengebäude geführt haben. Denn die
Rahmenbedingungen, die möglich sind und die zu weiteren Aktivitäten
und Öffnungen führen können, heißen Freiheit, Zeit haben und
unbeschwert in den Tag hineingehen zu können sowie unbeschwert und
ohne Ziel sein Denken vertiefen zu können. Das Ziel, kurz genannt,
sei Weisheit. Das ist für mich die Aufgabe eines erfüllten
Ruhestandes, die Tätigkeit im alt und frei sein. Um Weisheit zu
entwickeln muss der Fokus auf das Leben, auf den neuen Tag, auf den
Restbestand an Tagen sich ändern dürfen. Hierzu ist nicht „immer
weiter so“ gefragt, sondern gefragt sind vielmehr anhalten,
schauen, wirken lassen, offen bleiben und alles und jedes
hinterfragen zu dürfen.

Ich für mich werde dieses Ziel
verfolgen, wenn mein letzter Arbeitstag vergangen ist. Ich für mich
habe vor, weise zu werden. Und wenn es denn gelingen sollte, sehe ich
weiter und dann schreibe ich auch darüber, wenn Finger und
Augenlicht dies noch zulassen. Und ich bin genauso gespannt auf das
Ergebnis wie der Leser dieser Zeilen. So stelle ich mir den
Abschluss vor, den Lebensabend, und so werde ich ihn hoffentlich auch
bestreiten!