In meiner Vorstellung entsteht Stress nicht so sehr durch große Belastungen, sondern mehr durch den Widerstand, der diesen Belastungen, jetzt als zu bewältigende Aufgaben bezeichnet, entgegensteht. Und in nahezu jedem Lebensraum kann Stress entstehen. Das wir solcherlei Gesundheitsschädigungen auf der Arbeit oder durch Pflegeaufgaben in der Familie entwickeln, scheint klar zu sein. Das aber auch die Räume Spiritualität (Yoga, Zen), Freizeit (Hobby, Sport, Freunde) und Versorgung (Einkäufe, Wohnung, Haus, Selbständiges Einkommen) Stress hervorrufen können, ist uns nicht immer bewusst. Stress in verschiedenen Räumen gleicht sich nicht aus, sondern muss addiert werden. Häufig sehe ich, das Menschen versuchen, Stunden der Bildschirmarbeit durch abendliches sportliches Laufen im Feld auszugleichen. Ich glaube nicht, das das so einfach geht, wie man sich das gerne vorstellt, es sei denn, das Laufen ist mit Freude verbunden. Langes Sitzen am Bildschirm kann meiner Ansicht nach nur gezielt ausgeglichen werden, wenn zwischen dem Sitzen immer mal wieder aufgestanden und gegangen wird, sei es, um etwas zu trinken oder auch nur, um einmal um dem Block zu gehen. Im Zen wird das z.B. so gehalten, das zwischen den Sitzungen in der Regel immer meditativ gegangen wird. 1 Eine einseitige Belastung kann nicht durch eine andere einseitige Belastung ausgeglichen werden. Das sind dann zwei einseitige Belastungen, die sich für den Körper addieren. Der menschliche Körper ist ein Organismus und keine Maschine. Seine Grundfunktion ist Anpassung an das gewohnte Umfeld. Eine Maschine kann in der Garage oder dem Keller geparkt und nach Monaten reaktiviert werden, so denn vor Rost und Staub geschützt wird. Ein Organismus über Tage und Wochen abgestellt und dann aktiviert ist nicht mehr der gleiche wie zuvor. Das zeigen schon langwierige Unfallverletzungen, bei denen eine Extremität (Arm, Bein) über eine Dauer stillgelegt werden muss. Alle Körperfunktionen werden sich dabei verändern.
Dann habe ich mir angewöhnt, die Räume, wo meine Tätigkeiten stattfinden, funktional und angemessen auszustatten und weitgehend zu trennen. Vor dem Rechnerplatz steht ein geeigneter Stuhl, der Platz ist ausreichend beleuchtet und wird so es denn möglich ist nur für diesen Gestaltungsbereich genutzt. Man kennt das aus der Spiritualität und der Religion. Die Kirche und der Tempel werden so genutzt, auch für die Yogapraxis und die Meditation wird ein fester ausschließlich genutzter Platz empfohlen. In der Werkstatt wird gebastelt, repariert und gebaut, in der Küche wird gekocht und im Wohnzimmer wird gewohnt, was letztlich als Freizeitgestaltung gesehen werden sollte. Räume, die so gezielt einseitig genutzt werden, wirken auf den „unbewussten“ Geist wie rituelle Räume. Sobald sie betreten werden, ist die Stimmung der Aufgabe entsprechend ausgeprägt. Ich habe nie eine Kirche oder ein Zendo betreten, ohne von der diesen Räumen eigenen Stimmung betroffen gewesen zu sein. Man muss dafür auch nicht immer einen eigenen abgeschlossenen Raum haben, denn auch die Einrichtung von Teilräumen (Essecke, Yogaecke, Meditationsplatz) kann/sollte entsprechend gestaltet sein. Ein Kinderzimmer z.B. verliert seine solch Zimmern eigene „Energie“, wenn sie von Erwachsenen zur Arbeit genutzt werden. Räume sind Rückzugsorte, wo entweder gearbeitet, geturnt, meditiert, gespielt, gewohnt, gekocht oder gebadet wird. Das ist seit Jahrhunderten doch ein Stück Kulturgut und sollte nie vergessen werden. Zivilisierte Menschen brauchen diese Rückzugsorte, um gesund zu bleiben. „In meiner Badewanne bin ich Kapitän“, im Kinderzimmer bin ich spielendes Kind, im Arbeitszimmer arbeite ich und die Küche ist zum Kochen da. Es gibt sogar Esszimmer, Schlafzimmer, Essecken, Kochnischen und Spielzimmer. Warum nennen wir die sonst so? Unsere Lebensräume sind Gestaltungsräume. In sie ziehen wir uns zurück, um das zu tun was dort getan und erreicht werden muss. Wenn alles für alles verwendet wird, wenn alles durchmischt ist und alles gleich ist, können wir uns nicht mehr zurückziehen und entspannen. Dann brennen wir aus, weil wir nicht mehr abschalten können. Schon durch die Digitalisierung (Handy, Laptop, Chat) sind wir doch immerzu erreichbar, gleichgültig, wo wir uns gerade befinden. Und ich beobachte in meiner Umgebung, das kein freier Tag vergeht, ohne das Arbeit oder familiäre Pflichten ständig an der Entspannung nagen. Am Arbeitsplatz entspannt es sich nicht gut, die Werkstatt ist nicht zum Chillen geeignet und im Krach der Straße meditieren nur wirkliche Profis gut und tief. Alles und jedes zu vermischen ist Unsinn. Immer bereit zu sein für Leistung, Menschlichkeit und Aufmerksamkeit im Sozialgefüge ist ebenfalls Unsinn. Wir brauchen Erholung und Entspannung von den tausendfach geforderten Konzepten, und dafür gibt es Rückzugsräume und Ruhekissen, wo kein Handy klingelt und niemand stört. Diese müssen nämlich, um wirken zu können, ein Ausklinken für eine Dauer ermöglichen. Sie zeitigen, so sie denn gewohnt und ausschließlich dafür genutzt werden, einen Stimmungswechsel, der die Freude am Leben wieder aus der Verbannung holen kann. Rückzug bedeutet immer sich auszuklinken und für eine Weile oder Dauer bei sich selbst zu verweilen. In Gesellschaft und fremdgesteuerter Beschäftigung bist du immer eingebunden in eine Form, die nicht durch dich allein bestimmt ist. Bei sich selbst sein zu können ist die Basis jeder Entspannung, selbst wenn es nur für eine kleine Dauer stattfinden kann. Nur dann kann alles sein, so wie es für dich sein sollte. Nur dann bist du -vielleicht nur für einem Moment- frei.
- Nach 30 Minuten sitzen sollte mindestens 5 Minuten gegangen werden. Das das nicht immer so regelmäßig geht, ist klar, aber man könnte es doch versuchen: Das geht nämlich dann immer, wenn gerade mal kein Meeting stattfindet. ↩

