Ruhestand und Erinnerung

So, dann gehen wir jetzt zu einem anderen Thema, das die letzte offen gelassene Frage des Mobbing-Kapitels auch noch beantwortet: die Frage nach Gerechtigkeit. Meine Antwort ist klar und eindeutig: Es gibt sie nicht, es hat sie nie gegeben und sie wird noch ein paar tausend Jahre auf sich warten lassen, wenn überhaupt. Gerechtigkeit kann nur existieren, wenn alle gleich sind, die gleiche Ausgangslage, die gleichen Chancen, die gleichen Rechte, eine vorurteilsfreie Beurteilung, eine kalt-nüchterne Sichtweise usw. Das alles zählt aber nicht zu den Bedingungen, die wir dem Menschlichen im Allgemeinen zuordnen können oder müssen. Und auch der Computer, die KI sozusagen, wird das für uns nicht richten können, denn er ist von Menschen programmiert. Gerecht erschließt sich aus dem Begriff „Recht“ und das ist stets Menschen gemacht. Auch das Recht der Religionen ist von Menschen gemacht. Ein fehlerhaftes Wesen kann keine unfehlbaren Entscheidungen treffen. Meines Wissen existiert zur Zeit keine einzige Theorie, die in der Lage wäre, eine gerechte Ordnung zu beschreiben. Immer wird es Fehler geben, immer kann irgendwer Glück haben, kann irgendwer Pech haben, gibt es mal einen echt guten Zeitpunkt und auch das Gegenteil davon. Was daher anzuraten wäre ist: „Nehmen Sie im Alter die bestehende Ordnung an so wie sie ist!“ Es gibt keine Bessere, sondern nur Andere: „Eine andere Ordnung enthält nur andere Ungerechtigkeiten, andere Probleme, andere Nutznießer und andere Opfer“. Oder anders gesagt: „Machen Sie das Beste aus dem, was ist!“ Sie haben nämlich (wahrscheinlich) nur dieses Leben. Das Nächste ist extrem unsicher, und mitnehmen dorthin können Sie mit absoluter Sicherheit nichts. Jeder, der ging, hat alles, was er besaß, hier gelassen. Also entspannen Sie sich, akzeptieren sie was ist und genießen Sie ihren Ruhestand. Niemand weiß, was morgen sein wird. Nahezu alle Revolutionen sind nach hinten losgegangen, oder anders ausgedrückt: Alle großartig klingenden Neuentwürfe einer Gesellschaft haben bisher ihr Ziel verfehlt. Das gilt in gleichem Maße für alle toll klingenden Reformen und Umstrukturierungen. Meiner Ansicht nach muss immer von jetzt und hier ausgegangen werden und notwendige Veränderungen können nur sanft und in großem Konsens mit allen Beteiligten erreicht werden. Das gilt sowohl im Kleinen als auch im Großen. Und es wäre viel zielführender, wenn wir statt mit großen Maßnahmen Gerechtigkeit schaffen zu wollen mit kleinen Maßnahmen die Ungerechtigkeiten beseitigen würden. Die Technik dazu ist, immerzu an den Rändern zu glätten. So werden die Außenränder immer schmaler, verschwinden und schaffen neue Außenränder, die zu glätten sind, und so weiter. Und Ränder bezeichnen immer beide Extreme, Reiche und Arme, Kranke und Gesunde, wenig Gebildete und Hochgebildete usw. und glätten bedeutet, den Mangel und das Übermaß zu bereinigen beziehungsweise ins Soziale einzubinden. Die Mittel dazu sind Steuern, ausreichende Pflege und Gesundheitseinrichtungen sowie das Öffnen und Fördern von Bildungsstätten für Alle.

Wenn wir heute von Neuentwicklungen in Technik, Forschung und Analyse der Gegebenheiten reden, wird nahezu immer als absolut überzeugendes Argument der Verweis auf die Wissenschaften gegeben. Blicken wir aber in der Zeit zurück und überzeugen uns von der Treffsicherheit derer, die sich zu anderen Zeiten Wissenschaftler nennen durften, dann kann dem objektiven Beobachter durchaus mulmig zumute werden. Nahezu jede Neuentwicklung, die mit Begeisterung aufgenommen und verfolgt wurde, hat später und in zunehmend kleiner werden Zeitabständen zu großen Enttäuschungen geführt. Beispiele sind die Dampfmaschine und die Atomkraft in der Vergangenheit und die digitale Revolution wahrscheinlich in naher Zukunft. Und jedes Mal war/ist der Wechsel zu und der Abschied von den liebgewordenen Errungenschaften schwerfällig und schmerzhaft. Die Wissenschaften beschreiben doch immer nur den Konsens der gegebenen Epoche, verändern sich ständig und geben nie ein klares Ziel vor. Eine einzige Entdeckung, ob innovativ oder berichtigend, und das Bild der Gegenwart ändert sich grundlegend und eine andere Zielvorstellung rückt in den Vordergrund. Und die Wissenschaften sind bis auf wenige Ausnahmen noch immer vom längst überholten mechanistischen Weltgedanken beseelt. Hier also zu glauben, ständig um die Meinungshoheit kämpfen zu müssen, ist daher nur eine verkürzte Sichtweise auf die Möglichkeiten. Niemand weiß heute, was eine gesunde Ernährung ist, was den klar zu erkennenden Klimawandel ausgelöst hat noch wie er aufzuhalten sein könnte. Niemand weiß, was in der Medizin in naher Zukunft möglich sein wird und wann wir zu anderen Planeten aufzubrechen in der Lage sein werden. Wir wissen ja nicht einmal, was Leben bedeutet, worauf es beruht und welchen Sinn es verfolgt. Und seien wir ehrlich. Jeder arbeitet mit Strom. Weiß eigentlich irgendwer genau, was das ist, was da in, über oder durch die Steckdose zu uns kommt und unsere Maschinen antreibt? Wir wissen, was es kann, aber wir wissen nicht, was es ist. Ebenso geht es uns mit unseren eigenen inneren Antrieb. Was ich damit ausdrücken möchte ist, das wir viel zu wenig wissen über unsere Welt, um überhaupt streiten zu können. Alles kann möglich sein/werden oder auch nichts von alle dem. Wir sollten zugeben, das wir nahezu nichts wissen von dem, was wirklich wissenswert und erhellend sein könnte. Die Baustellen werden immer größer und aufwendiger, und wir wissen nicht einmal, was wir da bauen. War der Anfang des Bauens nicht die wirkliche Vertreibung aus dem Paradies des Christentums? Sollten wir vielleicht nicht besser mit dem Bauen aufhören und zu leben anfangen? Ich weiß es nicht und kann es nicht verbindlich für alle favorisieren. Aber für meinen Ruhestand habe ich mir vorgenommen, genau das zu verwirklichen: Kein Bauen mehr, viel mehr Leben…

Ich hatte es zu Beginn des Artikels schon mal ausgesprochen: Leben heißt immerzu lernen, sich immerzu anpassen und den Gegebenheiten folgen. Das gilt in kleinem Maß für sich persönlich und in sehr großen Maß für ein Leben in Gemeinschaften. Und in fortgeschrittenen Altersstufen heißt das nicht immer, sich bedingungslos einzubringen und jeder noch so verrückten Zeiterscheinung nachzulaufen. Jeder kann heute frei entscheiden, wie viel Gemeinschaft er zulassen möchte und wie viel er zu geben und sich anzupassen bereit ist. Entscheidend ist hier die Freiheit zu wählen. Und hier spielt ein Wort eine große Rolle, das meiner Ansicht nach die früher hoch geachtete Ehre, die das Verhalten zu bestimmten vermochte, abgelöst hat: Toleranz. Nun ist Toleranz nicht alles gut finden, sondern leitet sich von „tolerare“ ab, was soviel bedeutet wie ertragen, erdulden und erleiden. Toleranz bedeutet, das ich es ertragen können muss, das andere Menschen in meiner Umgebung, in meiner Gemeinschaft eine andere Art zu leben bevorzugen und/oder andere Sichtweisen bevorzugen, sei es aus einer Überzeugung heraus, sei es aus Bequemlichkeit, Unwissenheit oder sogar Verblendung heraus. Wie wir oben im Abschnitt zu Wissenschaften gesehen haben, ist heute die Möglichkeit „sich in Meinungsgeflechten zu verstricken“ immer gegeben. Gerade in fortgeschrittenem Alter ist dieses „Ertragen können“ eine wichtige Fähigkeit, denn von demselben hängen in entscheidendem Maß Gaben ab, die wir im Alter brauchen. Es ist ja nicht unsere Entscheidung als Ruheständler, ob andere Menschen, Kinder, Nachbarn, Freunde, uns zu helfen bereit sind, wenn wir das mal brauchen, oder uns „weiterhin“ teilhaben lassen. Unsere Beziehung zu anderen Menschen ist der gewünschte auslösende Faktor. Und darauf haben wir genau genommen nur wenig Einfluss. Daher ist es auch für alte Menschen wichtig, zumindest den Zeitgeist, der gerade regiert, zu verstehen. Ich muss mich ihm ja nicht anschließen, aber immerzu bekämpfen sollte ich ihn auch nicht. Auch sind die Ängste und dadurch ausgelösten Kämpfe der jungen Generation echt. Sie sind überzeugt von dem, was sie da tun. Auch hier muss der ältere Mensch nicht dagegen angehen oder immerzu abwiegeln. Ängste sind echt, immer, gleich-gültig, ob der Auslöser der nahende Tod oder die ungewisse Zukunft ist. Also seien Sie tolerant und bedenken Sie: Sie müssen nicht immer und überall ihren Senf dazugeben. Reden kann durchaus Silber sein, aber Schweigen ist fast immer Gold.

Nun bin ich schon wieder auf Seite 6 (DIN A4) angekommen. Ich weiß, das viele Menschen so lange Artikel nicht lesen, und ich bedanke mich für Ihre Geduld, denn Sie sind hier ja angekommen. Mir wird bestimmt noch vieles einfallen, und wenn ich einen Sinn darin sehe, es aufzuschreiben und zu veröffentlichen, werden ich das auch tun. Also bis bald wieder einmal. Ich würde mich freuen.

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