Haben wir verlernt zu sein?

Autobiographischer Exkurs: Nun ist mir dieses Wissen nicht einfach so zugeflogen, sondern es beruht auf einer Fülle von Erfahrungen, die mir aus vielen Quellen heraus zuteil wurden. Familie, Schule, Ausbildung, Arbeit, Verein und andere Lebensbereiche waren daran maßgeblich beteiligt. Und vielleicht ist es die Häufung, die hier den Pfad getrampelt hat, die mich zum Einzelgängertum geführt hat. Für mich waren seit ich denken kann Macht und Täuschung die Grundmotive aller gemachten Erfahrungen. Was sie zerstört bzw. zumindest gedämpft haben ist mein Vertrauen in die Mitmenschen. In vielen Zeiten meines Lebens waren Rückzug und Distanz-Halten meine einzigen Möglichkeiten zum Überleben. Häufig auf mich allein gestellt zu sein und meine Bedürfnisse ohne Hilfe durchpauken zu müssen war/ist nicht förderlich für ein Leben in Gemeinschaften. So erkläre ich mir heute meine Angst vor der Angst der Anderen. Für mich sind Menschen, die Macht ausüben, um ein Begehren zu befriedigen, immer ängstliche Menschen, Menschen die sich fürchten vor dem Alleinsein, dem Verlust ihres Begehrens oder der Einordnung auf einem niederen Rang innerhalb der Hackordnung, die durch all diese Vorstellungen erzeugt wird. Das habe ich erstmals in der Schule erlebt, dann in der Ausbildung, auf der Arbeit und sehr viel später musste ich sogar herausfinden, das selbst die eigene Familie da in nichts nachstand. Heute, im Ruhestand und in gesicherten Verhältnissen lebend, schaue ich zwar mit etwas größerer Distanz auf diese Erfahrungen zurück, aber sie sind immer noch anwesend und wirken, auch ohne weiterhin gebraucht zu werden. Vielleicht ist das auch der Grund oder die Motivation, die mich zur Meditation geführt haben.

Kommen wir zurück zum Sein und der sich stellenden Frage, was die letzten Abschnitte zum Sein beitragen können. Sie erklären vielleicht, wo wir stehen und auf welchen Wegen wir uns abmühen, aber sie scheinen auch aufzuzeigen, wie weit und wie tief wir in Holzwege eingedrungen sind und selbige durchlaufen haben, ohne jemals zu verstehen, wohin wir in Wirklichkeit gehen. Einige wenige Menschen nur warnen vor einem Weitergehen. Sie machen darauf aufmerksam, das wir gerade „den Ast ansägen, auf dem wir sitzen“. Andere proklamieren ein Zurück zum natürlichen Leben, wie es vor der Erfindung der Zivilisation stattfand. Weitere wollen den ungebremsten Fortschritt und den Aufbruch ins All, um die verlorenen Ressourcen des Planeten dort aufzufüllen. Ich persönlich sehe das etwas einfacher. Wir müssen weder vor/zurück noch müssen wir irgendwo hin. Nehmen wir einmal an, wir wären schon da, wo wir sein sollten. Und wir entspannen uns und schauen uns um. Da gibt es viele andere, die auch schon da sind, wo sie sein sollten. Das kann doch eigentlich so bleiben. Und wir sehen viele, denen es an Vielem mangelt und die nicht zufrieden sein können. Da sollten wir tätig sein und zur Zufriedenheit beitragen. Und wir sehen, das auch nach wie vor wider besseres Wissen große Begehrlichkeiten verfolgt werden. Diese sollten wir bremsen, in dem wir diesen Neigungen selbst nicht folgen und indem wir mögliche Belohnungen verweigern. Mehr können wir als kleiner Teil einer Masse nicht wirklich tun. Indem wir beispielhaft im Sein bleiben entsteht die Möglichkeit, das weitere Menschen unserem Beispiel folgen und langsam die Vernunft, was immer man auch darunter als verstanden wird, solange sie „Gutes“ im Sinn führt, verstehen mag, die große Masse erreicht. Holzwege können nicht rückgängig gemacht werden. Sie können vielleicht stabilisiert werden, so das weitere Zerstörungen vermieden werden. Einen Weg heraus aber gibt es nicht. Macht und Täuschung waren/sind die Wegweiser, die in den Holzweg geführt haben. Wir können nur aufhören, weiter diesen Hinweisen zu folgen. Ich denke, die Wiedererlangung der Fähigkeit zu Sein hätte für dieses Ziel eine große Bedeutung.

Was aber ist Sein? Jede Antwort darauf, so ist meine Sicht heute, führt zurück in einen Holzweg. Der Prozess des Lebens ist eben kein Puzzle, das zusammengesetzt und zerlegt werden kann. Es ist ein Strom, der fließt. Dem Fluss folgen und ihn nicht aufhalten ist für mich Sein. Unsere Aufgabe als Mensch ist nicht, das Flussbett zu gestalten und nach unseren eigensinnigen Wünschen einzurichten, sondern lediglich die Hindernisse wegzuräumen, die das Strömen verhindern. Mehr geht nicht. Die Wahl besteht für mich daher nur zwischen Holzweg und Sein. Ich denke, wir hatten Holzwege genug in unserer Entwicklungsgeschichte. Es wäre endlich mal Zeit, im Sein zu verweilen. Machtausübung und Täuschungen sind die menschlichen Errungenschaften, die dem Sein im Wege stehen. Keine Macht auszuüben verhindert die Ohnmacht des Gegenüber. Nicht mehr zu Täuschen lässt sichere Schlussfolgerungen und Erkenntnis zu. Vielleicht kehrt so das Vertrauen in Mitmenschen wieder zurück, das dann Grundlage sein könnte/kann für Frieden und Freiheit, einerseits zwischen Menschen, und folgerichtig dann auch zwischen Natur und Menschen und damit für alle Wesen. Für mich würde/wird das wahrscheinlich wohl zu spät kommen. Zu tief sind die Beulen, zu festgefügt sind die Gewohnheiten, zu alt und Niederlagen-reich ist mein Lebensgefüge und zu fest sind die Erwiderungen, die ich im Gehen des Holzweges habe aufbauen müssen, um erneut ein Vertrauens-sicheres Mitglied der Menschengemeinschaft werden zu können. Aber ich werde/würde die allgemeine Ausrichtung auf mehr Sein in jedem Fall begrüßen und mich bemühen, diesen Prozess wohlwollend zu begleiten. Das Urvertrauen an Mitmenschen allerdings werde ich wohl nicht mehr erreichen können. Dazu scheint es längst zu spät zu sein. Vielleicht schaffe ich es aber noch, im Sein anzukommen. Ich würde mich freuen und es würde mir auch genügen.

Der Strom ist alles, der Tropfen ist noch nicht einmal nichts, und jeder von uns ist dieser unendlichen Strom des Lebens. Weil: Es gibt gar keine Tropfen. So einfach ist für mich Sein.

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