Haben wir verlernt zu sein?

Was ich beobachten kann ist doch, das sich keine Blume scheut neben einer anderen Art zu wachsen, das unterschiedliche Vögel im gleichen Baum brüten und Hummeln, Bienen, Wespen und andere an der gleichen Blüte sich laben. Was also ist los mit uns Menschen? Und ich nehme mich selbst dabei nicht aus. Warum sind wir so anders als die anderen Träger des Lebens. Sogar der Löwe in Afrika schläft friedlich inmitten einer Zebraherde, deren Mitglieder sich zwar respektvoll im Abstand zu ihrem Fressfeind aufhalten, aber sicher zu sein scheinen, das Löwen nur dann gefährlich sind, wenn sie Hunger haben. Ich denke, beim Menschen als Feind wäre das anders. Da gibt/gäbe es keine Ruhephasen und daher auch keine Sicherheit. Kein anderes Wesen baut Zäune oder Burgen, zumindest nicht so dimensioniert wie in menschlicher „normaler“ Größe. Wenn ich mich in meiner Straße so umschaue, leben wir als Familie oder Paar in kleinen Gefängnissen, und wenn wir unseren Aufenthaltsort wechseln möchten, nutzen wir kleine Gefängniskästen, um dorthin zu gelangen. Alles ist eingezäunt und jedes Refugium ist mit hohen Heckenwällen sogar vor dem Blicken der anderen verborgen. Wir behaupten zwar, Sozialwesen zu sein, wohnen aber in abgeschotteten Zellen, die einem Gefängnis ähnlich sind. Und ja, auch ich bewohne eine solche Zelle, und ich habe voller Erstaunen tatsächlich erkannt: Ich bin gerne darin.

Ich denke immer wieder darüber nach, warum alles so ist wie beschrieben, und auf welcher Grundlage, auf welcher Kausalität das beruhen könne, was ich täglich sehe und erlausche. Haben Menschen unter sich Angst davor, sich zu begegnen, haben sie als Menschen Angst vor dem anderen Leben? Habe ich auch Angst vor den/dem Anderen? Als Einzelgänger, der ich (geworden) bin ist dieser Schluss doch naheliegend. Ist eigentlich das Abschotten, das Ordnung halten und sich schützen vor dem Anderen eine typisch menschliche Eigenschaft, und woher kommt diese Eigentümlichkeit, die uns vor allen anderen Wesen allein stellt. Was ist das Unbekannte hinter diesen Erscheinungen, denn wenn solche Fragen auftauchen können, wie ich sie gerade stelle, wissen wir doch/noch nicht?

In der Absicht, mit einem Zen-Meister über diese Frage zu sprechen, habe ich kürzlich in einem Gespräch angemerkt, das „ich Angst habe vor…“, und er antwortete kurz und prägnant mit der Aufforderung, ob ich diese Angst denn beschreiben könne. Ich konnte es nicht, und er beendete das Gespräch mit der Feststellung, das ich überhaupt keine Ahnung habe über meine Angst… Ich habe das als Aufforderung verstanden, das ich mir Gedanken machen solle über meine Ängste und so weiter. Das habe ich getan. Und ich bin erschüttert über die Kümmerlichkeit, die darüber zu Tage trat. Heute, Monate später, könnte ich etwas über meine Angst sagen. Heute ist mir auch klar, warum ich die Anfrage nicht beantworten konnte. Und mir ist klar, das es nicht in meiner Macht steht, diesen meinen Kummer wirksam zu beenden. Es ist nämlich nicht der andere Mensch, nicht das andere Wesen, nicht die Angst vor eigenem Versagen, Unwissen oder eigenem Verlust, der mich mehr als gewöhnlich umtreibt, sondern es ist wahrscheinlich einzig und allein die Angst vor der Angst der anderen Menschen, die mir Kummer bereitet. Ich sehe sie, wohin ich schaue, jeden Tag, jede Stunde. Ich versuche mal, das aus der ganz persönlichen Lebensgeschichte zu erklären.

Angst beruht wie nahezu alles auf unserer Welt auf einem Begehren, etwas zu erlangen, zu behalten oder der Option, über etwas verfügen zu können. Während die ersten beiden relativ einfach zu verstehen sind, ist das dritte Motiv ein sehr schwer zu beschreibendes Phänomen menschlichen Denkens. Über „etwas verfügen zu können“ nämlich ist nicht klar definierbar. Ich kann das Begehrte ablehnen, annehmen, nutzen, in Bereitschaft halten, für später aufheben und so weiter. Das ist die einfache Sichtweise, noch gut zu verstehen. Aber ich kann auch über etwas verfügen wollen, um das Gegenteil der letzten Aufzählung zu erreichen, zum Beispiel, etwas abzulehnen, um es zu bekommen, kann versuchen, etwas zu erlangen, um es nutzlos zu machen, kann über etwas verfügen nur deshalb, um mit dessen Anwendung drohen zu können oder etwas nur deshalb haben wollen, damit es andere nicht haben können. Man nennt diese Vorgehensweisen gerne Taktik, Strategie oder Intelligenz, und alle diese Formen der Täuschung haben vereinfacht ausgedrückt etwas mit Macht zu tun, Macht, auf andere Wesen einzuwirken oder sie zu Gunsten eines Begehrens manipulieren zu können. Und die oben genannten Optionen dieses menschlichen Könnens sind ja noch die einfachen Formen. Ich kann ja auch etwas annehmen, was ich nicht begehre, weil ein Freund, den ich nicht enttäuschen möchte (…weil ich ihn irgendwie brauche) annimmt, das ich es für mich wünsche müsse, obwohl genau das nicht zutrifft. Ich kann auch etwas ablehnen, was ich begehre, weil ein Feind, den ich enttäuschen möchte (…um ihn zu schwächen), annimmt, das ich es für mich wünsche müsse, was auch zutrifft. Und das sind nur zwei Motive aus einem ganzen Portfolio an Möglichkeiten.

Was mir also Angst macht und Sorge zu bereiten scheint ist die Fülle dieser nicht nachvollziehbaren Irrationalitäten und Täuschungsmöglichkeiten, denen Menschen in Gesellschaften immerzu ausgesetzt sind. Und niemand kann sich sicher sein, das er mit diesem Wissen im Gepäck jemals wieder eine richtige und sinnvolle Schlussfolgerung ziehen kann. 1 Was daraus resultiert ist eine permanente Abwesenheit von Sicherheit. Diese wird, und das erzählen nahezu alle Traditionen der Menschheit, abgefedert und verdeckt durch eine Fülle von Vorstellungen und Gewohnheiten, die in Form von Normen und Urteilen diese Fülle auf Übersichtlichkeit reduzieren. Sie vermitteln Handlungsanweisungen mit dem Mitteln von Erzählungen, Sitte, Moral, Tabus, Gesetze und Ideen, die vorgefertigt die Auswahl erleichtern sollen. Um zu funktionieren, müssen diese Vorstellungen aber durchgesetzt werden. Dafür stattet man einzelne Gestalten mit Macht aus, die irgendwie begründet und dann von allen anderen auch akzeptiert werden müssen. Diese Macht aber ist ein verführerisches Vermögen, das zu kleinen, großen und übergroßen Begehrlichkeiten beflügeln kann. Und es ist zusätzlich noch sehr wahrscheinlich, das Machtausübung dieser Art zu Widerstand führen wird.

  1. Das heute ganze Armeen von Wissenschaftlern dieses Wissen durchforsten, aufarbeiten und erweitern hat eben nicht zu Lösungen geführt, wie das alle anzustreben scheinen, sonder es ist eher ins Gegenteil umgeschlagen. Mechanismen, die etwas verhindern sollen, können auch zur Erzeugung desselben genutzt werden. Und genau das sehen wir heute in unübersehbarer Dichte.
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